Ein Beitrag von Michail Savvakis vom 26. Oktober 2011
Es ist üblich zu denken, daß man Überzeugungsarbeit leisten muß, um in der Gesellschaft etwas zu ändern. Doch das ist eine etwas verträumte Vorstellung, die davon ausgeht, daß Menschen primär aus Kognition und Vernunft agieren. Von dieser Vorstellung sollte man sich jedoch verabschieden, denn sie versetzt einen zu leicht in argumentative Abhängigkeit von denjenigen, die sich willkürlich weigern, sich überzeugt zu erklären. Auch wenn sie das inhaltlich sind.
Kollektive Handlungsmotivation beruht nämlich keineswegs auf Überzeugungen. Niemand bewegt sich beispielsweise auf den Straßen westlicher Großstädte, meinend, um ihn herum liefen männliche und weibliche „Konstrukte“. Jeder (auch der Genderist!) erkennt unzweideutig Männer und Frauen um sich, identifiziert jeden Schuh als männlich oder weiblich und handelt mit aller Konsequenz dieser Wahrnehmung. Allein seine politische Identitätsbildung ging einstmals mit jenen Inhalten vonstatten, die den herrschenden Doktrinen des Zeitgeists entsprechen, und so meint er, vom Konstrukt Mann und vom Konstrukt Frau sprechen zu müssen, um das zu sein, was er sein zu wollen glaubt: ein „emanzipatorischer“ Mitläufer.
Was ihn davon abbringen würde, vom Konstrukt Mann und vom Konstrukt Frau zu sprechen, wäre kein neu erlangtes Wissen im faktisch informellen Sinn, sondern ein neues Erkennen der eigenen Lage, eine Neueinschätzung seiner Positionierung verbunden mit einer neuen Selbstdefinition. Das aber impliziert die Entscheidung, an der eigenen Identität zu rühren, und so etwas können nur Erlebnisse mit Initiationspotential erwirken. Solche Erfahrungen, Umwandlungen der Art „vom Saulus zum Paulus“, sind selten und zumeist abenteuerlich wenn nicht gar schmerzlich, ja schockartig.
Vor mehreren Wochen illustrierte ein bemerkenswerter Artikel aus erster Hand, wie schwierig bereits der Schritt bis zu einer ersten Selbstreflexion ist. Es war der Artikel eines skandinavischen Journalisten in der SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, der beispiellos demonstrierte, wie schwer das Gewissen eines politisch vergebenen Menschen – selbst von den klarsten Signalen seiner mentalen Umgebung – erreicht werden kann, wenn diese seine politische Identität antasten. „Leo Lagercrantz war Chefredakteur einer meinungsstarken schwedischen Online-Zeitung“, lesen wir, der durch die Kommentare seiner kritischen Leser „erst zur Verzweiflung, dann zur Aufgabe seines Jobs gebracht“ wurde.
Nun beschreibt Lagercrantz die Aussagen seiner indizierten Peiniger so: „Ihre Texte sind aggressiv, aber stets gut formuliert und nie drohend.“ Er wirft ihnen zwar „Hassreden“ vor, beeilt sich aber dann zu präzisieren, daß er Texte meint, „die von den meisten Menschen in unserer Gesellschaft für Hassreden gehalten werden.“ Vielleicht sollten wir die „meisten Menschen in unserer Gesellschaft“ mit „Mainstream“ ersetzen, um der Aussage des Journalisten weitere Klarheit zu verleihen.
Denn bezüglich seiner ersten Erfahrungen als Online-Redakteur gesteht Lagercrantz sogar: „Die aufregendsten Texte entstanden in den Kommentarfeldern“. Auch bescheinigt er seinen Kritikern Überzeugtheit, eine Qualität, die „oft nicht schlechter als die eines etablierten Journalisten“ gewesen sei, und Wahrhaftigkeit, wenn er einen seiner Herausforderer mit den Worten beschreibt: „Er forderte mich… nicht auf… zu verschwinden. Nein, viel schlimmer: Er fing an, mit mir zu diskutieren… wo denn die Grenzen zwischen Integrationskritik und Rassismus, Antisemitismus und Israelkritik, Frauenhass und Gender-Forschung verlaufe.“ Lagercrantz gesteht schließlich: „Zu meiner Verteidigung konnte ich nicht mehr viel anführen“, und er gibt sich mit der bitteren Gewißheit geschlagen, „besiegt worden zu sein.“
Anders nun als seine Kontrahenten beschreibt der Journalist seine früheren Kollegen als doktrinäre und machtbewußte Meinungshüter, die ihre wirkungsvollen Kommentarsparten gezielt nur denen zur Verfügung stellten, die das Sagen haben sollten, und täglich „ein paar Dutzend eingesandte Texte“ mit Genugtuung ablehnten, um unliebsamen Meinungen die Veröffentlichung zu verweigern. Lesen wir nur folgenden Teil aus der Beschreibung dieser publizistischen Meinungsherrscher:
„Ein Redakteur… war ein echter Gatekeeper, einer, der darüber verfügte, wer Zugang zur großen Öffentlichkeit erhielt und wer zur großen Menge der Abgelehnten gehörte, die ihre Ansichten für sich behalten mussten.
Ich kenne Redakteure, in den Feuilletons und den politischen Redaktionen, die es nicht nötig hatten, auf Briefe oder Mails von Lesern zu antworten, die ihnen nicht einmal den Respekt erwiesen, sie abzulehnen, und die das Telefon nicht abnahmen. Und mit den angenommenen Texten ging der Redakteur nach eigenem Gutdünken um, er kürzte sie, veränderte die Folge von Sätzen und Absätzen, wie es ihm passte und ohne den Autor um Einverständnis zu fragen.“Doch Lagercrantz trauert nicht nur nostalgisch dieser imposanten Vergangenheit nach, von der er sich – bezugnehmend auf das Aufkommen des Internet – mit dem Seufzer verabschiedet: „Dann fiel der Vorhang“. Er befürwortet nicht nur heute noch die Zensurmacht seiner megalomanen Meinungshüter-Kollegen von einst. Nein, er verleumdet zudem die einfallsreichen Andersdenkenden auf den später entstandenen Internet-Plattformen mit düsterhaften Psychologisierungen („traurig und einsam“) und mit deren Herabsetzung zu „Trollen“. Eine denkbar falsche Benennung, denn damit sind im Internet Teilnehmer gemeint, die Diskussionsabläufe stören oder verfremden wollen – das Gegenteil von dem, was die kreativen Kommentatoren des voreingenommenen Schreiberlings seiner eigenen Darlegung nach beabsichtigten.
Was Lagercrantz vorführt, ist eine Umwidmung oder Umpolung des moralischen Bewußtseins. Er dokumentiert ein Unrecht, nämlich die Zensierung von (zum Teil überlegenem) Gedankengut, und erklärt sich mit beeindruckender Selbstverständlichkeit zum Befürworter dieses Unrechts! Genauer besehen räumt hier ein allgemein moralisches Gut seinen Platz zugunsten eines speziellen weltanschaulichen Interesses: Die Meinungsfreiheit zugunsten einer konkreten Meinung oder die Moral selbst zugunsten der Gesinnung.
Solche Mutation geht mit einer Verschiebung vonstatten, bei der die Identität nicht mehr um das autarke, aber „traurig und einsam“ vorgestellte Ich pulsiert, sondern ihre Bleibe ins vorgewärmte Wir-Zelt des Mainstreams verlegt hat, von wo aus sie nur mehr eine Krise oder ein Ungemach vertreiben könnte, aber keine zehn Pferde der Vernunft, des Anstands oder der Einsicht. Hier die Kraft von Fakten oder vernünftigen Argumenten geltend machen zu wollen, ist realitätsfremd.
Im Dunst ihres kollektiven, sich um eine Ideologie gescharten Wir, sind diese Mainstream-Schläfer fähig (wie etwa bei Amnesty International) von Frauenrechten zu schwadronieren, während sie ein Banner hoch halten, auf dem „Menschenrechte sind unteilbar“ steht. Oder, wie Ex-Moderator Wickert, sich als Antisexisten lancieren, während sie durch die Medien mit „Helfen Sie einem Mädchen“ für ihre suspekten Nur-Mädchenhilfswerke die Trommeln wirbeln.
„Gegen eine Dummheit, die gerade in Mode ist, kommt keine Klugheit auf“, hat einmal Theodor Fontane formuliert. Gemeint ist der moralische Somnambulismus einer Gesinnungsergebenheit, der übrigens nicht nur die Anhänger einer bestimmten Gesinnung verfallen, sondern der die Anhänger einer jeden sich zum Kollektiv verfestigten Bewegung zu verfallen Gefahr laufen. Eine Konstante also, deren Schliche wenige durchschauen.
Versuche nun einer diese Trägen mit Argumenten aufzuwecken! Viel aussichtsreicher wäre es zu warten, bis sie aus dem Bett fallen, sprich aus dem einst vorgegebenen Rahmen, in welchem sie, als sie schlafen gingen, meinten, ihre Anliegen noch eingrenzen zu können. Als sie noch nicht die Form- und Maßlosigkeit des eigenen Anspruchs erkannt hatten, der ja heute immer offener allgemeine Legitimationsgrundlagen abweisen muß, um sich weiter zu behaupten.
Vor einiger Zeit überraschte es manche, als eine Bloggerin aus dem Lager der sich „Mädchen“ nennenden Neufeministinnen den Rechtsstaat mit seiner Unschuldsvermutung als „von weißen Männern ausgedachten Rotz“ attackierte und sich an dem Patriarchat zu rächen suchte, indem sie ihm eine reichlich fäkal kontaminierte Zunge rausstreckte. Daß derlei Gebaren kein Versagen des Feminismus, sondern des patriarchalen Rechtsstaates darstellt, versteht sich von selbst.
Und was den Zerfall der Form nach innen, hinsichtlich also der eigenen einstigen Prämissen betrifft, hat man den herrlichsten Ausblick in Richtung jener jungen und fast ausnahmslos schlanken und wohlgeratenen oder wohlpräparierten Exhibitionistinnen, die ihre öffentliche Enthüllung zelebrieren und fadenscheinig mit Prinzipien des prüden Feminismus zu vereinen sich bemühen. So sei ihr Strip als Protestkundgebung gegen Prostitution zu verstehen oder dagegen, daß ein kanadischer Polizist bei irgendeiner Kleinveranstaltung Frauen ermahnte, sich „nicht wie Schlampen anzuziehen, um nicht zum Opfer“ sexueller Gewalt zu werden.
Wenn jemand von uns seine Geldbörse verlieren würde und mit ihr einen unverhältnismäßig hohen Geldbetrag, würde möglicherweise ein Freund zu ihm sagen: „Selbst daran schuld – man sollte nie so viel Geld bei sich tragen.“ Vermutlich brächte unsereins Einsicht zum Ausdruck – etwa mit dem Zugeständnis: „Du hast vollkommen Recht, ich war leichtsinnig.“ Wir wären sicher nicht verärgert darüber, daß jemand uns eine Art Schuld zugewiesen hat, denn wir hätten verstanden, daß dieser Freund uns nicht in einem moralischen oder gar juristischen Sinn für schuldig erklärt hatte, sondern in einem rein ursächlichen: Hätten wir unsere Geldbörse nicht üppiger ausgestattet als nötig, wäre unser Verlust ein geringerer gewesen.
Was aber wären wir, wenn wir aufgrund der kritischen Bemerkung anhaltende Entrüstung gegen ihren Urheber hegen würden, ihm wiederholt vorhielten, die falsche Seite zu beschuldigen, und, um ihn an sein angebliches Fehlurteil zu erinnern, ihm immer wieder die Fülle unseres Portemonnaies vorführen und pochend auf unser Recht hinweisen würden, so viel Geld bei uns tragen zu wollen, wie es uns passe, ohne deswegen Mitschuld an seiner eventuellen Entwendung tragen zu müssen? Was wären wir, wenn wir dergleichen Ausfälle immer wieder genüßlich feiern würden, weil wir die einmalige Ermahnung eines Freundes ausbeuten wollten, um solche inszenierte Anfälle angeblicher Empörung und Aufbegehrens zu rechtfertigen? Wären wir nicht kritikunfähige Hysteriker, unwürdig ernstgenommen zu werden?
So dämlich treiben es nun die „Schlampen“ bei ihren Märschen. Sie „protestieren“ nämlich insgeheim und gar unbewußt gegen die feministische Bevormundung, die ihnen die Option verleidete, mit ihrem „erotischen Kapital“ zu kokettieren. Sie stellen den Verfall einer feministischen Form dar, die einst dazu trieb, Reklamebilder leichtbekleideter Frauen an Kinos zu beschmieren.
Nicht, daß der Feminismus an derlei Diskrepanz allein zerbrechen könnte. Es war ja auch nie eigene Konsistenz, was ihn zusammenhielt. Aber so wie er nicht allein kam, sondern Teil eines weltrevolutionierenden Konzepts war, so wird er auch nicht allein verschwinden, sondern mit sämtlichen bizarren Eintrachten des gemeinsamen Ursprungs wird er von einer Bühne stürzen, deren Bretter bald beginnen werden, ihnen allen um die Ohren zu fliegen. Man beobachtet es, ohne irgendwen überzeugen zu wollen. Man tauscht nur gelegentlich mit denen einen Blick aus, die gerade keine Überzeugungsarbeit erfordern, um ihre Gegenwart zu erkennen und sich ihr zu stellen. Ein Konsolidierungsprozeß in Zeiten der Auflösung ist das, keine Überzeugungsmühsal.
Quelle:
Feminismus: Das Bekehren in Zeiten der Auflösung, Der Maskulist am 26. Oktober 2011
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