Das Signalisieren der Gruppenzugehörigkeit ersetzt die argumentative Auseinandersetzung

Blogger Fefe schreibt:

Zum Jahresende muss ich ja immer noch einmal über alle Blogmeldungen rüber, um daraus das Material für die Fnord-Show zu sammeln. Das ist auf der einen Seite Knochenarbeit, auf der anderen Seite schafft es aber auch neue Perspektiven und korrigiert Eindrücke. Dieses Jahr hatte ich zum Beispiel den Eindruck, reihenweise richtig heiße Eisen angefasst zu haben. Ich habe so viel entrüstete Hasskommentare gekriegt, dass ich automatisch annahm, ich müsse da auch kontroverse Dinge gesagt haben. Aber jetzt wo ich mal objektiv übers Blog gehe, stelle ich fest: Nein, habe ich nicht. Nicht nur nicht oft. Nein. Gar nicht. Meine Blog­postings waren ausgewogen, ja zurückhaltend formuliert, haben niemandem persönlich auf die Schuhe gepinkelt, ich habe niemanden bloßgestellt und niemanden für Dinge angeprangert, die sie nicht eh öffentlich durchgeführt haben. Ich habe hier meinen „Code of Conduct“ nicht nur erfüllt, sondern übererfüllt.

Das macht mich natürlich nachdenklich. Wie kommt das, dass so viel Indignation und Hass in meine Richtung schwappt? Und dann stellte ich fest, dass ich die Antwort auch schon im Blog hatte, in Form eines Links zum immer wieder großartigen Slate Star Codex.[1] Weil das vermutlich nicht viele gelesen haben, denn der Text war lang und brauchte Zeit, werde ich die Punkte hier nochmal inkompetent zusammenfassen.

Die Herleitung ist mehrschichtig. Auf der einen Seite zitiert er PETA, diese Tierrechtler mit den geschmacklosen Stunts, die mehr Tiere töten als ihnen helfen[2] (diese Site ist auch wunderbar für Medien­kompetenz­training, findet mal die Betreiber raus). Er nennt eine Konkurrenzgruppe von PETA namens Vegan Outreach, die im Gegensatz zu PETA das Richtige tut und als Belohnung völlig unbekannt ist. PETA nimmt in Kauf, Teile ihrer Zielgruppe mit ihren abstoßenden Aktionen zu verschrecken, nicht weil sie dumm sind, sondern weil das aus einer bestimmten Perspektive richtig erscheint.

PETA doesn’t shoot themselves in the foot because they’re stupid. They shoot themselves in the foot because they’re traveling up an incentive gradient that rewards them for doing so, even if it destroys their credibility.

Dann geht die Argumentation weiter über Vergewaltigungs­fälle. Von denen Fällen, die in den Medien groß aufgebauscht wurden, weil Feministen aufsprangen und die Story viral machten, haben sich krass überproportional viele als falsche Anschuldigungen herausgestellt. Feministen greifen sich also extra die am offensichtlichsten schwachen Fälle raus und springen auf die auf, um ihre These zu verbreiten, dass es egal ist, wie schwach der Fall aussieht, wichtig ist nur, dass das Opfer sich als Opfer wahrnimmt. Der Effekt ist wie bei PETA. Viel Kontroverse und am Ende haben die Feministen ihren Thesen mehr Schaden zugefügt als neue Anhänger gewonnen. Warum machen die Feministen das?

Seine These ist, dass Menschen ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen signalisieren wollen. Dazu gehört, die moralischen Werte der Gruppe zu vertreten. Wenn man jetzt den moralischen Wert „Tiere sollten gut behandelt werden“ bei einem Fall von offensichtlicher Tierquälerei vertritt, dann gucken sich die Passanten das an und sagen: ja, klarer Fall von Tierquälerei, das muss beendet werden. Als Signal für die Gruppen­zugehörigkeit eignet sich das daher nicht. Wenn du dich allerdings aus dem Fenster lehnst und die moralischen Werte in völlig überzogenen Fällen vertrittst, dann schreckst du damit zwar Außenstehende ab, aber um die ging es ja auch gar nicht. Es ging darum, innerhalb der Gruppe zu signalisieren, dass du so moralisch gefestigt bist, dass du die Prinzipien der Gruppe auch in unter Selbstaufgabe und Inkaufnahme von Schaden für den eigenen Ruf auf völlig abwegige Fälle anwendest. Man könnte also im übertragenen Sinne davon sprechen, dass man sich über solche Klogriffe als Märtyrer inszeniert. Märtyrern geht es ja auch nicht darum, den Gegner umzustimmen, sondern innerhalb der eigenen Gruppe Ansehen zu gewinnen. Und die Gruppe hat einen Anreiz, Märtyrer zu feiern, weil das den anderen gegenüber die Botschaft festigt, dass ihr eigenes Verhalten noch nicht weit genug geht (in unklaren Situationen sind Menschen immer versucht, ihre eigene Position in der Mitte des Spektrums zu suchen, und Märyrer treiben das Aktivismus-Extrem des Spektrums weiter nach außen, was auch die Mitte verschiebt).

Das Money Quote dazu ist:

In the same way, publicizing how strongly you believe an accusation that is obviously true signals nothing. Even hard-core anti-feminists would believe a rape accusation that was caught on video. A moral action that can be taken just as well by an outgroup member as an ingroup member is crappy signaling and crappy identity politics. If you want to signal how strongly you believe in taking victims seriously, you talk about it in the context of the least credible case you can find.


Genauso wenig ist es ein Zeichen, wenn man öffentlich macht, wie sehr man einer Anschuldigung glaubt, die offensichtlich wahr ist. Selbst hartgesottene Antifeministen würden einem Vergewaltigungs­vorwurf glauben, der auf Video festgehalten wurde. Eine moralische Handlung, die genauso gut von einem Mitglied einer Outgroup wie von einem Mitglied einer Ingroup ergriffen werden kann, ist ein mieses Signal und eine miese Identitätspolitik. Wenn Sie signalisieren wollen, wie sehr Sie die Opfer ernst nehmen, sprechen Sie darüber im Kontext des am wenigsten glaubwürdigen Falls, den Sie finden können.

Das mit den Märtyrern steht nicht bei Slate Star Codex, das habe ich extrapoliert, das ist meine Deutung.

Nun, was kann man dagegen tun? Nicht viel. Man kann die Gegenseite nach rationalen Argumenten fragen, aber die gibt es natürlich nicht. Das war ja gerade der Punkt. Wenn es rationale Argumente gäbe, hätte sich derjenige einen anderen Fall für das Signalisieren der eigenen moralischen Überlegenheit gesucht.

Ich möchte übrigens ausdrücklich auf die Parallelen in Deutschland hinweisen, in der Causa Kachelmann beispielsweise.

Der Punkt ist jedenfalls, dass rationale Argumente nicht existieren, by design. Das ist so gewollt. Fälle mit rationalen Argumenten sind für die Selbstdarstellung der eigenen moralischen Überlegenheit unattraktiv. Die Frage ist jetzt, wie man damit umgehen soll.

Man könnte das jetzt als Troll-Heraus­forderung begreifen und nach rationalen Argumenten fragen, wohl wissend, dass es die nicht gibt. For the lulz, sozusagen. Hier ist ein aktuelles Beispiel dafür. (Anmerkung: Tweet ist nicht mehr verfügbar.) In den Kommentaren haben zwei Leute noch jeweils 50 Euro draufgelegt. Trotzdem das Schweigen im Walde. Die einzigen, die überhaupt zu antworten versuchen, sind Männer („Allies“ im Feministen-Neusprech), und die haben natürlich keine Argumente, wieso man jemanden blocken muss, sondern bloß wieso ihrer Meinung nach irgendwas angeblich problematisch ist.

Alternativ könnte man sich vornehmen, solche Selbst­darstellungen einfach ab jetzt als Taten von Opfern in einem sekten­ähnlichen sozialen Konstrukt zu sehen, die sich in einem Wettstreit befinden, wer sich am gröbsten öffentlich zum Klops machen kann. Bei den der „Rape Culture“ angeklagten Fraternities an US-Unis gibt es übrigens ganz ähnliche soziale Konstrukte, nur machen die das nur einmal am Anfang zur Einnordnung der Neu­ankömmlinge. Die sind hier also zivilisatorisch einen Schritt weiter.

Auf der dritten Seite stellt sich die Frage, ob man den Menschen nicht helfen kann, die in so einem pseudo­religiösen Kult gefangen sind. Sekten­aussteiger­programme? Wenn man die ignoriert, dann haben die ja so gut wie gar keine Chance, sich aus ihrem selbst­zerstörerischen Abhängigkeits­verhältnis zu lösen.

Ich habe da auch keine Antwort. Aber ich finde, es hilft enorm, wenn man sich beim Lesen von solchen Tweets nicht auf „boah sind die alle debil“ festlegt, sondern über die Mechanismen nachdenkt, die Menschen zu sowas treiben können. Man darf ja nicht vergessen, dass diese Leute im Allgemeinen eine solide Schulbildung haben, größtenteils sogar einen Uniabschluss oder ein laufendes Studium. Das sind keine dummen Menschen!

Ich halte das für eine der essentiellen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, wie man solchen Menschen helfen kann. Für mich ist das auf einer Ebene mit der Frage, wie man Drogen­abhängigen (insbesondere Alkoholikern) helfen kann. Und ja, ich glaube übrigens, dass auch die Pegidisten ihren Zusammenhalt aus solchen sozialen Mechanismen beziehen. Wenn wir diese Nuss geknackt kriegten, wäre das ein enormer Fortschritt.

Vielleicht ist der Schlüssel, dass man ihnen immer wieder vor Augen führt, dass sie der Gruppe Schaden zufügen, nicht nur sich selbst. Die Gruppen merken das ja, dass sie Schaden nehmen.[3] Aber keiner geht den Schritt, „liegt das vielleicht an mir?“ zu fragen.

Quelle:
Fefe am 22. Oktober 2015
Anmerkungen:
[1] Scott Alexander: The Toxoplasma Of Rage, Slate Star Codex am 17. Dezember 2014
[2] www.petakillsanimals.com
[3] Laura Sophie Dornheim: „#Netzfeminismus war mal ein wichtiges, starkes und empowerndes Label.
Heute seh ich zuerst Shitstorms, Zwietracht und Ineffizienz. :-/“, @schwarzblond am 21. Okt. 2015 um 13:10 Uhr